„Heimat? Muss das wirklich sein?“ Obwohl wir die Heimat auf den Mond verfrachtet haben, stellt mir meine Kollegin diese Frage und schaut etwas ratlos, als sie das Schild auf dem Mond auf unserem Titelcover sieht. Dem Begriff haftet etwas Reaktionäres an. Der Erfolg nationalistischer Bewegungen und Parteien hat die Debatte über die Heimat befeuert. Phänomene wie Globalisierung und Entgrenzung sind weltweite Entwicklungen, die nicht nur, aber eben auch auf den post-sozialistischen Raum Einfluss haben. Was bedeutet Heimat? Wie wird sie wahrgenommen im Prozess der post-sozialistischen Transformation 30 Jahre nach dem Epochenjahr 1989? Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es in den post-sozialistischen Regionen Europas?

Zunächst schauen wir auf Ostdeutschland, wo die Flüchtlingspolitik die Entfremdung zwischen Teilen der Bevölkerung und dem politischen Establishment beförderte. Wir blicken auf die gesellschaftlichen Konfliktlinien, die sich hinter dem Aufstieg der AfD verstecken, und suchen nach möglichen Antworten (Kunath/Gorskih). Einen fotografischen Blick werfen wir auf Eisenhüttenstadt. In der ersten sozialistischen Planstadt der DDR verlaufen die Konflikte entlang der Grenzen der dortigen Erstaufnahmestelle für Geflüchtete (Hempel).
Anschließend nähern wir uns den polnischen Heimatdiskursen: Gerade die nationalistische Agenda der PiS führt zu einer Trotzreaktion der polnischen Diaspora in Deutschland. Unsere Autorinnen und Autoren schauen auf die gesellschaftlichen Diskurse der Zwischenkriegszeit und der Nachwendeperiode, um die gegenwärtigen Entwicklungen einzuordnen (Franz/Dudzinski). Die Spaltung in ein patriotisches und ein liberales Lager hält sich erstaunlich stabil, trotz der historischen Brüche. Heute besteht der Erfolg der PiS auch darin, die Benachteiligten der post-sozialistischen Transformation mit Würde zu behandeln (Andrzejewski/Mausbach). Umgekehrt gilt diese würdevolle Behandlung jedoch nicht für das sozialistische Erbe Polens (Politt).
Sozialismus und Heimat – das ist ohnehin ein heikles Feld, erst recht in Anbetracht der erzwungenen Migration im Zuge des Zweiten Weltkriegs. Für die einen war die sozialistische Heimat lediglich eine Illusion (Heller/Tschäpe/Poghosyan). Andere drückten ihre Heimat trotz oder gerade wegen der Migration ganz unterschiedlich aus – geografisch, politisch, sprachlich. Das zeigt die ambivalente Geschichte der Sowjetdeutschen (Noé).
Abschließend schauen wir auf den Balkan: Nachdem wir uns per Sachsen-Anhalter auf die Suche nach den flüchtigen Heimaten in Sarajewo gemacht haben (Rahn), widmen wir uns den Beziehungen zwischen den Balkan-Staaten und der Europäischen Union. Einerseits ist die Europäische Union nach wie vor der Sehnsuchtsort schlechthin, wie sich am Beispiel Albaniens zeigt (Vako). Andererseits trägt die Politik der Europäische Union einen gewichtigen Anteil daran, dass die Heimat auf dem Balkan schlichtweg erstarrt und alles andere als eine Perspektive bietet. Das zeigt das Beispiel Kosovo (Hyseni).
Wie in den vorherigen Ausgaben auch gehören zu unseren Autorinnen und Autoren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Internationalen Parlaments-Stipendium des Deutschen Bundestages (IPS). Darüber hinaus haben erstmals Studierende der Viadrina in Frankfurt (Oder) an der Erstellung der Ausgabe mitgearbeitet. Ein besonderer Dank geht deshalb an Ebru Duman, Inés Noé, Lea Lochau, Luisa Liebtrau, Pauline Heinke und Saskia Heller.
Im Namen der gesamten Redaktion wünsche ich viel Spaß bei der Lektüre und anregende Gedanken.
Stefan Kunath, Chefredakteur, Berlin
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Stefan Kunath
Heimat als Politikum – Ostdeutschland, AfD & die Linkspartei
Stefan Kunath
Kontern gegen Kontra – Ein Kommentar zur Identitären Bewegung in Halle
Lea Lochau
„Heimat ist dort, wo ich mich wohl fühle.“ – Geht Heimat ohne Ausgrenzung?
Anna Gorskih
Ersatzheimat Fußball – Politikprofessor Timm Beichelt im Interview über Ostfußball und RB Leipzig
Valentin Goldbach
Hass in der alten Heimat – Polen entfremdet sich von seiner Diaspora
Martha Dudzinski
Bemerkungen zur derzeitigen Geschichtspolitik in Polen
Holger Politt
Polenversteher wider Willen – Wie sich die PiS am Buffet historischer Widersprüche bedient
Piotr Franz
„Das kleine Vaterland“ – wie junge polnische Konservative ihre Heimat sehen – Interview mit dem Politikwissenschaftler Piotr Andrzejewski
Leo Mausbach
Eisenhüttenstadt: Fragmented City – Analoge Fotografie
Jonathan Hempel
Frankfurt (Oder) als Drehscheibe der Weltkriegsheimkehrer – Interview mit dem Historiker Karl-Konrad Tschäpe
Saskia Heller
Der Rhein wurde auf Deutsch schon häufig besungen… Heimatbegriffe in der sowjetdeutschen Literatur – transkulturelle Perspektiven?
Inés Noé
Meine Adresse – Sowjetunion? – Wie die Träume der armenischen Diaspora von einer besseren Heimat zerplatzten
Ani Poghosyan
Meine Heimat, deine Heimat, unsere Heimat – Czernowitz, eine multikulturelle Stadt früher und heute – Interview mit Serhij Lukanjuk
Eduard Kosminski
Der Euromaidan – Identität zwischen dem Eigenen und dem Fremden
Dorothee Theresa Adam
Per Sachsen-Anhalter durch die jugonostalgische Galaxis – Ein essayistisches Mosaik von flüchtigen Heimaten
Juliane Rahn
Albanien Ante Portas – Albanien hofft auf die Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen
Kristi Vako
Kosovo: Da haben wir unseren Staat, lass uns von hier verschwinden!
Mevlyde Hyseni
The Bosnia List: Identität und Heimat nach der Flucht – Buchrezension
Annika Grützner
Titelbild: Yevheniia Oliinyk, Kiew